5. Januar 2017

Perfektion - bilderlose Gedanken

Irgendwann in 2002: Meine jüngere Tochter und ich sitzen auf dem Fußboden. Vor uns ein Blatt Papier. DIN A1. Meine Tochter wirkt davor wie ein Zwerg. Dann legt sie los. Mit Pinsel und Wassermalfarben streicht sie in großzügigen Bahnen die Farben auf. Hier, dort und da. Dann ist das Bild fertig. Sagt sie. Ich bin beeindruckt. Von der Entschiedenheit ihrer Aktion. Von der Selbstsicherheit. Von der Fähigkeit, der Malerei ein Ende zu setzen. Und, zu guter Letzt, von dem Ergebnis. Begeistert hatte ich das Bild über meinen Arbeitsplatz zuhause gehängt. Es hing dort bis ich auszog. Leider mochte es aus meiner Familie sonst niemand. Es war für die anderen nur "Gekritzel".

Ein gutes Jahr später:

Die überaus talentierten malerischen Fähigkeiten ihrer sechs Jahre älteren Schwester konfrontieren meine jüngere Tochter mit einer unerreichbaren qualitativen Herausforderung. Dem kindlichen Drang zum Nachmachen sind plötzlich Grenzen gesetzt. Hinzu kommen Rückmeldungen im Kindergarten: Haus, Auto, Baum, Pferd, Auto und Menschen sehen anders aus, als von ihr gemalt. Ihre Schlussfolgerung: "Ich kann nicht malen". Das Ende ihrer Freude an der Malerei war besiegelt.

Jedes Mal, wenn ich an ihr "Erstlingswerk" denke, stimmt mich diese Entwicklung traurig.

Aber die Geschichte half mir, zu begreifen. Zu Verstehen, dass ich exakt mit dem gleichen Problem zu kämpfen hatte. Denn ich war der festen Überzeugung nicht malen, geschweige denn skizzieren zu können. Meine ständigen Versuche dienten nur der Beweisführung:
Meine Bilder waren nicht perfekt!

Was ist perfekt?

Die detaillierte Zeichnung, die jedes Gesichtshaar erkennen lässt? 
Das Landschaftsbild, in dem der Telegrafenmast bis in das kleinste Detail ausgezeichnet ist?
Das Meeresbild, welches das Gefühl einer hervorragenden Fotografie hinterlässt?

Ja, die Bilder sind perfekt. und ich bewundere die Künstler für ihr Werk.

Wie sieht es mit dem Strichmännchen eines spanischen Bauern von Miro aus?
Mit den zerfließenden Uhren von Dali?
Mit dem rückwärtsvorwärts fahrenden Piratenschiff von Klee?
Mit der ungleichmäßig blau bemalten Fläche des Bildes "Blau" von Miro?

Ich denke, auch diese Bilder sind perfekt. Auch hier bewundere ich die Künstler.

Ist das nun ein Konflikt?

Nach meiner Auffassung gibt es nur wenige Begriffe, die derart individuell geprägt sind wie Perfektion und Qualität. Denn alleine ich als Individuum lege die Maßstäbe für meine Beurteilung meiner Arbeit und der Arbeit anderer an. Das tue ich mittels meiner eingeprägten, erlernten, absoluten Wertmaßstäbe. Oder auch im Zuge eines Lernprozesses durch subjektive Beurteilung eines Augenblicks. Durch Einbindung meines Wissens über den Künstler, seine Zeit und die damals akuten Themen.


Weg auf dem Camino Françes, Spanien
Mein Beispiel ist der Feldweg:

Wie kann ich diesen Weg bewerten?

Meine Erwartenshaltung sagt mir, dass Feldwege immer rau, uneben, steinig, schmutzig, schlecht zu befahren und mit vielen planerischen Unwägbarkeiten gespickt sind. Er ist also in der Ausführung von niedriger Qualität.

Komme ich von dem Klettersteig zurück, so fühlt sich dieser Weg eher als erholsame Fläche an, auf der man zügig vorankommt.

Als Pilger suche ich ihn wegen seiner Abgeschiedenheit und der Güte des Belages im Vergleich zum harten, heißen Asphalt der Straße.

Auf dem Fahrrad störe ich mich an einigen Stellen an dem losen Sand oder Schotter, auf denen die Spur nur schwer zu halten ist. Vielleicht gibt es Stellen, an denen ich sogar das Rad schieben muss.

Mit dem Rennrad spüre ich die Schlaglöcher heftig und zerfahre mir den Reifen an den spitzen Steinen.

Mit dem Auto setze ich auf, beschädige meinen Unterboden, reiße Baugruppen ab.

Mit Inlinern auf diesen Weg? Das geht schon mal gar nicht!

Also, welche Güte hat der Weg nun?

Genauso ist das auch mit der Malerei.

Eine mikroskopisch genaue Abbildung einer Hummel in einem Pastellbild nötigt mir gegenüber der Künstlerin Respekt ab. Sehr wahrscheinlich haben ihr die investierte Konzentration und Zeit geholfen, innere Ruhe, Kraft und Balance zu regenerieren. Das Bild hat also perfekt seinen Zweck erfüllt.

Gilt das auch für einen energievollen Pinselstrich auf einer Leinwand?

Ich sage: Ja!

Es kann der befreiende Strich sein, der eine jahrzehntelange Blockade auflöst. Der Strich, der plötzlich vor der Angst befreit, eine Malfläche zu versauen anstelle das "perfekte" Bild darauf zu hinterlassen. Ein Strich, dessen Form, Farbe, Ausfransungen, Ausläufe und Brüche bei genauem Hinsehen sehr viel über den Menschen sagen, der diesen Mut besaß, einfach "nur" einen Strich abzubilden. Plötzlich füllt sich der Strich mit Leben, Formen, Assoziationen. Also hat doch auch dieses Bild seinen Zweck erfüllt.

Wieviel sagt dann erst ein Blatt Papier aus, vor dem ein Mensch stundenlang saß und es nicht gewagt hat, den ersten Strich zu machen? Die Spannung dahinter ist schlimmer als in den übelsten Thrillern! Ängste übelster Ausprägungen gefolgt von Zweifeln, von (Selbst-) Vernichtung und (Auto-) Aggression. (Selbst-) Mordgedanken folgen Verzweiflung und Trauer. Alles nur auf einem leeren Blatt Papier! Perfekt. Oder?

Wenn ich also in moderner Managementsprache Intention und Ergebnis einem "Benchmarking" unterziehe und sage: "100% erfüllt", dann habe ich per Definition ein perfektes Ergebnis abgeliefert. Dazu darf ich auch stehen!

Und die Qualität?
... ist subjektiv

Wenn ich mir gesagt habe "Mehr geht in diesem Bild nicht", entschließe ich mich auch zu der Aussage, dass das Bild meinem Qualitätsanspruch genügt. Ich schließe es also ab und widme mich einer neuen Aktivität, gegebenen Falls auch einem weiteren Bild. 

Aber Qualität ist doch ein objektiver Standard! 

Zuhause, im Kindergarten und in der Schule galten Ansagen: Formen einhalten. Nicht übermalen. Keine Kleckse auf dem Papier. Keine sichtbaren Überreste einer übermalten Form. Genau sein. Keine Pinselhaare im Bild. "Saubere" Farben verwenden. Präzision, Mühe und Angstschweiß müssen ersichtlich sein!

Es gibt nicht wenige Gemälde berühmter Künstler, die wegen mangelhafter Ausführung diese Kriterien nicht erfüllen. Sie wären mit der Note "mangelhaft" benotet worden: Ungleichmäßige Pinselführung mit fleckigen Flächen, übermalte Ränder, übermalte Fehlversuche, versehentliche Farbkleckse, Pinselhaare en Masse und ungleichmäßig aufgetragene Firnis sind nicht selten. Glauben Sie nicht? Dann schauen Sie sich mal die Bilder der großen Im- und besonders der Expressionisten im Museum an. Die sind häufig ganz anders als auf dem Plakat oder in dem Kunstbuch - Sie werden schockiert sein!

Aber Qualität und Perfektion sind subtil. Denn bei jedem Galeriebesuch und mit jedem Bild, dass ich sehe, stelle ich mir die Frage, ob meine Bilder nicht hoffnungslos schlecht sind im Vergleich zum dem Kunstwerk, vor dem ich stehe.

Dann hilft mir nur noch, zu Hause meine Bilder zu betrachten. In sie zu einzutauchen und zu versinken. Bald darauf merke ich, wie sehr ich meine Bilder liebe. Wie viel sie mir sagen. Wie viel Kraft sie mir geben. 

Schließlich lerne ich daraus immer wieder neu, meine eigenen Abwertungen in den Griff zu bekommen. Freude an den Fähigkeiten Anderer löst in mir keine bleibenden Selbstzweifel mehr aus. 

Das Bild eines anderen Künstlers kann mich total faszinieren. Doch bleibt die Intensität meiner Beziehung zu meinen Bildern dadurch unverändert. Ich bin glücklich, sie gemalt zu haben, liebe sie und möchte sie nie anders gemalt haben.

Aber, ich habe es erst gelernt, nachdem ich den Entwicklungsprozess meines Kindes verstanden habe. Bei MitpatientInnen konnte ich in Kunsttherapeutischen Einheiten diese Geschichte repliziert sehen. Aber ich durfte auch erleben, was passierte, wenn ich diese Menschen zum "Unperfekten" anstiften konnte:

Plötzlich lachten wir beim Malen oder Gestalten. Wir fühlten uns wohl in unserer Haut. Selbst dann, wenn mal etwas nicht funktionierte. Angst war bei ihnen dann Geschichte. Wir konnten wieder sagen: " Fertig"

Plötzlich machte Kunst wieder frei und glücklich. Kindlich. Unbeschwert.

Und genau dieses Gefühl entsteht jedes Mal in mir, während ich an meinen Bildern arbeite.

Nicht immer sofort.

Denn nach längeren Schaffenspausen kommt schon ab und zu der unzufriedene Erwachsene in mir durch und mault, weil sich ein Bild nicht so wie erwartet entwickelt. Dann aber nehme ich ihn zur Seite, sage ihm, dass für mich alles so, wie es ist, auch perfekt ist und er sich bitte nicht einzumischen hat.

Das wirkt. Immer.

Spätestens jedoch, wenn ich mir das Bild ansehe und sage:

"Fertig"

Spaziergänger - Acryl auf Malkarton, Lackierrolle